Anscheinend wird es unter Studenten gerade zur Mode, Schnelllesetechniken zu erlernen. Ist das der erste Schritt zur globalen Verdummung oder werden wir nun alle zu Selfmade-Savants?
Der Titel der Bibel des Schnelllesens von Tony Buzan lautet: „Speed Reading. Schneller lesen – mehr verstehen – besser behalten.“ Nun mal langsam! Das klingt doch etwas paradox: Warum sollte man mehr verstehen, wenn man schneller liest?
Nun, ähnlich wie eine gewisse Mindestgeschwindigkeit beim Fahrradfahren die Umkippequity verringert, hält ein höheres Tempo beim Lesen die Gedanken in der Spur. Bei niedrigen Lesegeschwindigkeiten sind die grauen Zellen schnell unterfordert und schweifen ab.
Unser Gehirn fasst außerdem Sinneseindrücke immer in Blöcken zusammen. Prof. Dr. Ernst Pöppel von der LMU München, Autor des Buches „Grenzen des Bewußtseins“, spricht vom „Wahrnehmungsfenster“. Besser gefällt mir der Ausdruck „Gegenwartsdauer“. Unsere Gegenwart dauert lächerliche 3 Sekunden. Benötigen wir für das Lesen eines Satzes länger als 3 Sekunden, ist der Satzanfang bereits Vergangenheit und das Verständnis damit der Gnade unseres Erinnerungsvermögens überantwortet.*
Und was hat das mit Backgammon zu tun? Mir ist verschiedentlich aufgefallen, dass den Zugentscheidungen von Anfängern häufig nur die Analyse eines Ausschnitts der gegebenen Stellung zugrunde liegt. Ergibt sich bspw. aus der Position im eigenen Heimfeld eine gute Möglichkeit zu attackieren, werden Züge auf der anderen Seite des Boards gar nicht mehr evaluiert.
Meine These ist nun, dass Anfänger deutlich mehr als 3 Sekunden benötigen, um eine Position zu „lesen“. Damit zerfällt die Position in Teilbereiche, die einzeln analysiert, aber kaum im Zusammenhang evaluiert werden können. Besonders kritisch ist das für das Erlernen des Umgangs mit dem Verdopplungswürfel. Wenn Dopplerentscheidungen immer nur mit Teilen einer Position verknüpft werden, ist es nahezu unmöglich, ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt zum Doppeln zu entwickeln.
Fazit: Auch Backgammon benötigt also ein gewisses Tempo. Für Anfänger bedeutet das spielen spielen spielen. Dank der neuen Funktionalitäten von XG2 kann man sich nun zusätzlich antreiben: mit Uhr spielen und Schritt für Schritt die Bedenkzeit runterdrehen.
Und was ziehen fortgeschrittene Spieler aus diesem Wissen für Konsequenzen? Schneller spielen? Es gibt einige Argumente, die dagegen sprechen: Bspw. lässt sich bei guten Spielern ein nicht zu unterschätzender Anteil von Fehlern darauf zurückführen, dass der beste Zug schlicht übersehen wurde. Dies wiederum ist in vielen Fällen auf das so genannte (negative) Priming zurückzuführen: Die Interpretation neuer Reize wird stark beeinflusst von vorherigen Reizen. Wenn jemand die Farbe des Wortes blau bestimmen soll, wird er länger brauchen und häufiger Fehler machen, als bei dem Wort grün (Stroop Effekt). Wenn ich einen Wurf bekomme, der genau zu meinem aktuellen Spielplan passt und auf den ich eventuell seit geraumer Zeit gewartet habe, realisiere ich vermutlich nicht, dass eine Änderung des Spielplans mit diesem Wurf momentan sogar noch besser wäre.
Aus diesem Grund fällt es uns leichter, Quizpositionen zu lösen: Die Wahrnehmung ist nicht durch den Spielverlauf voreingenommen. Wahrnehmung funktioniert nämlich leider viel zu häufig top down. Betrachten wir z. B. folgendes Bild:
Das auf der Spitze stehende Dreieck existiert gar nicht. Die Wahrnehmung ist hier verdreht: Das Gehirn bestimmt, was die Augen gefälligst zu sehen haben.
Also langsamer spielen? Prof. Dr. Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts in Berlin und Autor des Buches „Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition“, hätte wohl ein paar Argumente dagegen anzubringen:
Backgammon ist viel zu komplex und vielfältig, als dass man jede Position 100% bewusst analysieren und bewerten könnte. Man kann einen Ball nicht fangen, indem man Zettel und Stift herausholt und die Flugbahn berechnet. Man benötigt eine Heuristik wie: „Fixiere den Ball, beginne zu laufen und passe deine Laufgeschwindigkeit so an, dass der Blickwinkel konstant bleibt.“
Ähnlich wird auch für das Backgammon ab einem bestimmten Niveau Intuition und Mustererkennung bestimmend. Der Zug, der einem als erstes in den Kopf kommt, ist oft der beste, gerade weil er vom Unterbewusstsein ausgewählt wurde, das in komplexen Situationen zuverlässiger arbeitet als Logik und Ratio. Es ist demnach unnütz bis kontraproduktiv, sich zu viel Zeit mit seinen Zügen zu lassen. Man gerät nur in Versuchung, das richtige Gefühl kaputtzurationalisieren.
Also was dann? Mein Vorschlag:
- In drei Sekunden den besten Zug ermitteln und merken.
- Überprüfen welchem Spielplan dieser Zug zuzuordnen ist.
- Zweitbesten Spielplan suchen.
- Zweitbesten Zug suchen.
- Sollte sich herausgestellt haben, dass der zweitbeste vielleicht doch der beste Zug ist: Prima! Ansonsten: Zug aus 1. ausführen. Im Zweifel: Zug aus 1. ausführen.
Zusammenfassung:
Meine These ist, dass Anfänger sich nicht zu viel um Theorie und insbesondere korrektes Doppeln scheren sollten (was auch dem Fun Faktor zugute kommt), solange sie nicht eine gewisse Spielgeschwindigkeit erreicht haben. Die Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie lassen mich vermuten, dass es anfangs effektiver ist, sich auf die Geschwindigkeit anstatt auf die Qualität des Spiels zu konzentrieren.
Fortgeschrittene Spieler sollten die Intelligenz des Unbewussten schätzen lernen, gleichzeitig aber die Schwächen der eigenen Wahrnehmung erkennen und versuchen Gegenmaßnahmen zu habitualisieren, so z. B. das ständige Hinterfragen des Spielplans und das bewusste Ermitteln des zweitbesten Zugs.
* Ernst Pöppel zeigt, dass man sich die Gegenwartsdauer leicht selbst bewusst machen kann: So ist es z. B. unmöglich bei Kippbildern zwischen den Wahrnehmungsalternativen in weniger als 3 Sekunden zu wechseln. Andersherum wechselt Ihre Wahrnehmung auch gegen Ihren Willen nach 3 Sekunden sofern Sie beide Varianten sehen können. Nach Pöppel ist es kein Zufall, dass Gedichte immer eine ähnliche Verslänge haben und davon abweichende Langzeilen eine Zensur in der Mitte aufweisen: Der Vortrag einer Verszeile nimmt ziemlich genau 3 Sekunden in Anspruch.
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